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Ayurveda kontrovers - Quo vadis Ayurveda ?

30.09.2003 | von Dr Hans H. Rhyner

„Wir stellen uns vor, dass ein traditioneller indischer oder chinesischer Arzt in einem Fachzentrum eine Klientin in seiner Landessprache klassisch diagnostiziert und therapiert“, meint der Herr Professor an einer Medienkonferenz an der Technischen Hochschule in München. Dabei überprüfen ein Schulmediziner und ein Ethnologe, ob der fremde Medizinmann auch wirklich sein Ethnoritual unverfälscht durchzieht und nichts vom Wissen verloren geht, d.h. nach Aussen dringt. Solche Therapien gelingen nämlich nur, wenn sie von einem im jeweiligen Kulturkreis Geborenen ausgeführt werden. – Hallo Kastendenken und Lobbyismus!

Medizin im Kontext der Kulturen hiess der Anlass. Die Journalisten konnten sich auch bei der zweiten Pressekonferenz keinen Reim daraus machen, wozu diese Konferenz überhaupt dienen sollte und deshalb wurde wiederholt nachgehackt. Der erste Klärungsversuch von Frau Dr. Smita Naram, einer Ayurveda-Ärztin aus Mumbai, wurde vom Moderator sehr unhöflich abgeschmettert und lächerlich gemacht. Wie ihr sein Kommentar zurückübersetzt wurde, stand Sie mit Tränen in den Augen auf und verliess den Saal. Was hatte sie verbrochen? Ihre Äusserung betreffend dem Sinn dieser Konferenz waren dahingehend, dass wir alle voneinander lernen können, dass die verschiedenen medizinischen Systeme Teilaspekte eines Ganzen seien. „Typisch indisch, alles in einen Topf zu werfen!“, kommentierte der Moderator. „Die Ethnologen haben sogar einen Begriff dafür geschaffen: All-Inclusiveness (Alles-inklusive-Denken) und überhaupt ist das sicher nicht der Anlass zu dieser Konferenz.“
Das von einem indisch stämmigen Arzt, der auch Ayurveda praktiziert, zu hören, war ein ziemlicher Schock für mich. Als ich mich davon erholt hatte, meldete ich mich zu Wort, das mir auch erteilt wurde.
„Eine Konferenz wie diese bietet eine grossartige Plattform zum Austausch. Medizinische Systeme wie Ayurveda oder TCM besitzen über Jahrtausende ununterbrochene klinische Erfahrung, von denen wir hier in Europa nur profitieren können, da unsere eigene Naturheilkunde verfolgt und dezimiert wurde. Ich wundere mich nur, dass kaum europäische Vertreter eingeladen wurden.“
Das war der Stich ins Wespennest. Jetzt kam Bewegung in die krawattentragende graue Liga. Erstes Argument mittels dem ich und die Medienvertreter belehrt werden sollten: „Wenn wir wen einladen, dann müssen wir auch jemand anders ausladen. Die Zeit ist sehr begrenzt.“ – Hört sich ziemlich unüberzeugend an. Wer bestimmt, dass wer eingeladen wird, ist ja wohl der Kern einer Konferenz und wird nie dem Zufall überlassen. Wie ich schon vor dem Kongress erfahren konnte, gehörte ich zur Gruppe, die eigentlich ausgeladen werden sollte. Das zweite Argument verriet dann mehr von der Stossrichtung, in die es gehen sollte: „Wir sind hier in den (heiligen) Hallen der Universität. Wir stellen Ansprüche an die Geladenen und Systeme. Da muss schon ein universitärer Level gegeben sein.“ Dieses Argument hätte ich gelten lassen können, hätte da nicht vorhin im Auditorium ein Schamane neben mir gesessen. Aber auch da musste ich einsehen, dass wenn, wie im ersten Abschnitt erklärt wird, ein oder mehrere echte Wissenschaftler daneben stehen, auch die wildesten Therapiekonzepte gleich einen wissenschaftlichen Charakter erhalten.
Dieser Kongress war wohl ein verzweifelter und eben nicht sehr erfolgreicher Versuch der universitären Schulmedizinkaste, den Gesundheitstrend-Kuchen an sich zu reissen. Alle Umfragen sprechen eine klare Sprache: Das Volk will Ganzheitsmedizin und Wellness. Die Meinungsforscher haben die medizinische Kaste auf den Boden der Tatsachen gebracht. Wenn man aber Entscheidungen nur von Meinungsumfragen abhängig macht, läuft man jedem Trend nur hinterher. In Indien nennt man so was das „late crow principle“- das späte Krähenprinzip: Eine Krähe hat was zu fressen gefunden und krächzt so laut sie kann. Nun kommen die anderen herbei geflogen. Die späte Krähe kriegt kaum mehr was ab. Ich finde es völlig legitim, wenn sich die Ärzteschaft für Ayurveda zu interessieren beginnt. Ayurveda wird zum wundervollsten Instrument in den Händen jedes guten Arztes. Aber bitte nicht gleich versuchen, den Kuchen ganz an sich zu reissen. Interessant für den Kranken ist die Symbiose, die sich aus dem Zusammenkommen der beiden Arbeitsthesen in der Praxis entwickelt. Sperren sie aber Ayurveda in den goldenen Käfig, d.h. nur Inder können Ayurveda und nur bei Indern hilft sie – dann verliert die Behandlung die Wirkung und sie machen sich des Rassismus schuldig. Wir könnten dem ebenso entgegnen, dass Aspirin von einer deutschen Firma entwickelt wurde und deshalb nur bei Deutschen wirkt oder dass die Anti-Baby-Pille bei Japanerinnen die Schwangerschaft nicht verhütet, weil ein Europäer sie erfunden hat.

Ayurveda ist nicht traditionelle indische Medizin. Sie hat eine These entwickelt, die universale Gültigkeit an jedem Ort und zu jeder Zeit besitzt. Wir sind dankbar dafür, dass Ayurveda auf dem heutigen indischen Subkontinent in ununterbrochener Tradition überlebt hat. Ein alleiniger Besitzanspruch des politischen Staates Indien oder einer indischen akademischen Gruppierung kann aber in keinem Fall gut geheissen werden. Wenn wir den Stammbaum von Ayurveda, wie in Caraka Samhita beschrieben, zurückverfolgen, dann stossen wir auf einen riesigen Kongress von Gelehrten aus aller Welt, die ums Wohl der Menschheit besorgt waren. Von diesen Wissenschaftlern der Antike wird immer wieder auf den Nutzen von Ayurveda für die ganze Menschheit und nicht eine politische oder soziale Gruppe hingewiesen.

Vor 15 Jahren hatte ich die Gesundheitsministerin und Ärztekammer in Delhi besucht, um mit ihnen die Möglichkeit zu prüfen, ob nicht ein spezieller Ayurveda-Lehrgang auf universitärer Ebene für Ärzte und Naturheilpraktiker aus westlichen Ländern eingeführt werden könne. Der Bescheid war, dass der indische Staat keine Gesetzte für Länder ausserhalb seines Territoriums machen könne und damit auch kein Handlungsbedarf bestehe. Heute sind zwar nicht von Regierungs- jedoch von institutioneller Ebene Bestrebungen im Gange, dass Ayurveda-Ärzte aus Indien in Europa anerkannt werden sollten. Das geht nun auch wieder nicht, denn jeder Austausch muss bilateral sein, d.h. im Westen ausgebildete Therapeuten müssten auch in Indien praktizieren können. Warum? –Weil heute die Ausbildung in Europa einen gleichwertigen Charakter besitzt. Anfangs der Neunziger Jahre haben mich viele bekannte Ayurveda Ärzte und Professoren in unserer bestens eingerichteten Ayurveda Klinik in der Schweiz besucht. Ihr Kommentar war einstimmig: Es gibt nichts Vergleichbares in Indien! Erst die Popularität von Ayurveda im Westen hat ihr im Ursprungsland zu einem neuen sozialen Ansehen verholfen. Bis dahin haben führende Intellektuelle und Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik Ayurveda kaum oder keine Beachtung geschenkt. Andererseits wünschten orthodoxe Ayurveda Fachleute keine Vermischung. 1994 war ich zur einem Kongress in Kerala eingeladen, der von der „Ayurveda Medical Association of India“ organisiert wurde. Ihr Präsident Dr. Anil Kumar und alle Anwesenden verurteilten die Entscheidung des Landestourismusverbandes mit harten Worten, den Fremdenverkehr von Kerala mittels Pancakarma zu propagieren. Der wissenschaftliche Aspekt von Pancakarma würde dabei verloren gehen, meinte er. Heute wissen wir, wer gewonnen hat. Der Ayurveda Tourismus ist in Kerala wie auch in Shri Lanka einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren. Hat Ayurveda deshalb zu existieren aufgehört oder rümpft deshalb die halbe Welt die Nase drüber? Nein, im Gegenteil, das hat zur Popularität von Ayurveda beigetragen. Soweit schon, dass Fernsehmoderatoren wie Herr Fliege zwischen Ayurveda Wellness und medizinischem Pancakarma differenzieren können.

Ein Wort zu den Unterschieden in der Ausbildung der Ayurveda. In Indien ist Ayurveda Schulmedizin, d.h. Frau oder Mann muss dafür einen technischen Maturitäts-Abschluss haben und nach harter Aufnahmeprüfung 9 Semester studieren sowie ein Jahr hospitieren. Die Studenten sind bei ihrem Eintritt ins Kolleg 17 bis 18 und am Ende ihres Studiums 22 bis 23 jährig. Sie kennen die Textbücher auswendig, haben aber kaum klinische Erfahrung, wie ich bei unzähligen Rekrutierungsgesprächen erfahren musste. Viele wandern in andere Berufe ab oder praktizieren nebenerwerblich. Die Besten ergattern einen der raren Plätze für eine Facharztausbildung und können damit an einem Kolleg unterrichten. Die wirklich guten Ärzte, die ich für meine Klinik in Bangalore gewinnen konnte, besassen alle eine traditionelle Zusatzausbildung, d.h. sie stammten aus traditionellen Ayurveda-Ärztefamilien oder lernten neben ihrem Studium von einem klassischen Ayurveda Meister.

In Europa besitzen praktisch alle, die eine Ayurveda-Ausbildung beginnen, bereits einen Schul-, Universitäts- oder Lehrabschluss. Diese Menschen haben hohe Ideale. Sie möchten nicht nur ihren Beruf, sondern auch ihr Leben mit Ayurveda verändern. Im Gegensatz dazu folgende Anekdote: Eine Patienten, hell begeistert von ihrer ersten Ayurvedamassage, fragte die beiden qualifizierten Ayurveda-Ärztinnen, die sie behandelt hatten, ob diese denn dieses Gefühl auch kennen, ob sie auch schon massiert wurden? Beide verneinten. Das gab mir sehr zu denken. Noch mehr aber wunderte ich mich, als wir bei 3 Patientinnen ein Vamana Karma (therapeutisches Erbrechen) durchführen wollten. Alle sechs neu eingestellten Ärztinnen und Ärzte wollten dabei sein. „Warum?“ fragte ich. „Weil wir noch nie ein Vamana miterlebt haben“, war die prompte Antwort. Deshalb kann ich aus eigener Erfahrung feststellen, dass die Qualität unserer in Europa ausgebildeten Mitarbeiter betreffend manueller Therapien und Betreuung der Patienten auf einem viel höheren Niveau liegt, als in meiner indischen Klinik. Was noch fehlt sind gute Diagnostiker sowie medizinische Fachleute mit klinischem Wissen betreffend der Wirkung von Medikamenten und Therapien. Diese Lücke schliesst nun Mahindra Institut für Ayurveda mit seinem Studium für Ayurveda Medizin (SAM). Voraussetzung für den Abschluss ist eine Zulassung als Arzt oder Heilpraktiker. Damit kann im Rahmen der bestehenden Gesetze Ayurveda frei angewendet werden. Die staatliche Anerkennung des paramedizinischen Bereichs ist der nächste Meilenstein. Damit wird der staatlich anerkannte Ayurveda Therapeut zum eigenen Berufsstand.
Eine weitere Interessengruppe ist die pharmazeutische Industrie. Da die Grundlage vieler Medikamente natürliche Substanzen sind, liegt es nahe, dass Ayurveda auch ein paar Pfeile im Köcher hat. Alle internationalen Pharmakonzerne haben ihre Niederlassungen im Riesenmarkt Indien und forschen dort auch. Ayurveda liegt seit über 70 Jahren quasi vor den Türen dieser Niederlassungen und entsprechend wurde sicher schon geforscht. Das Problem lag darin, dass die bekannten Wirkstoffe mit ihrer Isolierung oft auch ihre Wirkung verlieren und ein Monopräparat sich schwer patentieren und leicht nachahmen lässt. Also hat man die Finger davon gelassen. Mit dem Aufschwung der Phytopräparate in Europa ist ein Wandel in diesem Denken entstanden. Die Gefahr bei diesen Grosskonzernen ist, dass sie in erster Linie auf Profit aus sind. Das müssen sie, sonst verlieren sie an Börsenwert. Absonderliche Blüten treibt dieser Baum: Für die Zulassung von Viagra wurde mehr Geld ausgegeben als die weltweite Forschung für Alzheimer als Jahresbudget zur Verfügung hat. Das kann dazu führen, dass in 20 Jahren jede Menge alter Männer mit mächtigen Erektionen rumlaufen, aber nicht mehr wissen, wozu diese gut sind…

Trotzdem hat nur diese Industrie die Mittel und Möglichkeiten, ein ayurvedisches Medikament in Europa zur Zulassung zu bringen. Im Schweizerischen Kanton Appenzell Ausserrhoden konnte ich 1992 genau 63 ayurvedische Medikamente registrieren. Dabei musste ich die Unbedenklichkeit nicht aber die Wirksamkeit belegen. Pro Präparat kostete dies einschliesslich meiner Arbeit um die € 1000.00. Das Gesetz wurde geändert und nach einer Übergangsfrist von 8 Jahren sind meine Registrierungen hinfällig. Eine neue Zulassung würde pro Medikament auf einen Aufwand von € 25*000 bis € 100*000 zu stehen kommen, ohne Garantie auf Erfolg. Das rechnet sich für mich nicht mehr. Eine Pharmafirma könnte sich das jedoch leisten, wenn sie überzeugt ist, dass sich ayurvedische Medikamente auch verkaufen lassen.

Die Beauty- und Wellnessbranchen haben Ayurveda auch entdeckt. Die Kunden und Gäste werden jedoch immer anspruchsvoller und geben sich mit oberflächlich und ohne Know-how Basis durchgeführten Ayurveda-Behandlungen nicht zufrieden. Die Atmosphäre muss stimmen – der Keller oder die alte Rumpelkammer eigenen sich nicht als Ayurveda-Station. Das Personal muss professionell und sorgfältig geschult sein. Und so sehe ich auch in diesem Bereich keine Gefahr mehr für die Verwässerung für Ayurveda. Somit habe ich verschiedene Interessengruppen durchleuchtet, die mit Ayurveda in irgendeiner Form arbeiten und liste sie hier noch einmal auf:
1. universitäre westliche Medizin 2. orthodoxe indische Vertreter 3. Ärzte und Heilpraktiker in Europa 4. Ayurveda Therapeuten in Europa 5. moderne Pharmaindustrie 6. Beauty und Wellness 7. Tourismusindustrie 8. Ausbildungsinstitutionen

Mit ihrer steigenden Popularität gerät Ayurveda nicht nur in Kontakt mit diesen Gruppierungen sondern zunehmend ins Interessefeld von regulierenden Behörden, Organen und Verbänden. Dies stellt eine enorme Herausforderung sowie eine grossartige Chance dar, Ayurveda im Westen fest zu etablieren und gesetzlich zu verankern. Dabei müssen nicht nur die Anforderung an Lehrinstitutionen, Dozenten, Studenten, Prüfungsreglemente, Weiterbildung und Forschung festgelegt werden; es wird auch um die Belegbarkeit der Wirkung von Ayurveda Behandlungen gehen. - Leute geben viel Geld für Ayurveda aus und sie haben das Recht auf einen belegbaren Gegenwert dafür. Aus meiner Erfahrung kann ich diesen Trend nur befürworten. Ayurveda ist bestens gewappnet, um die geforderten Belege zu erbringen. Voraussetzung dafür ist eine fachliche und menschliche Kompetenz, die jeder in seinem Bereich durch seriöse Ausbildung und Arbeit erbringen muss.
Ayurveda wird in Europa einen festen Platz einnehmen. Sie ist nicht ein Modetrend, der bald vergessen wird. Sie wird uns sehr lange erhalten bleiben. Wie vielfältig ihr Einsatzbereich im Gesundheitssystem und zur Behandlung von Krankheiten ist, dokumentiert die grosse Anzahl der Interessenbereiche mit ihren diversen Anwendungsmöglichkeiten. Und Ayurveda wird durch diese Verbreitung nicht verwässert, sondern gestärkt. Alles was den Menschen dient, ihre seelische, geistige und körperliche Gesundheit zu erhalten, um ihre ureigene Mission in dieser Welt erfüllen zu können, ist Ayurveda. Autor: Hans Heinrich Rhyner, Naturarzt für Ayurveda und allg. Naturheilkunde, MD, PhD (alternative Medicine) Dr. Rhyner gilt als führender international anerkannter Ayurveda-Experte und Pionier. Dem gebürtigen Schweizer geht es um Anpassung und Integrierung der klassischen Ayurveda in das westliche Denken. Dr. Rhyners Wissen ist äusserst authentisch, lebte er doch über 20 Jahre in Indien, studierte und praktizierte vor Ort indische Philosophie, Yoga, Vastu, Siddha, Ayurveda und spirituelles Heilen. Heute praktiziert er in der Schweiz und im allvedya Ayurveda Seminar- und Gesundheitszentrum in Loosdorf im Weinviertel (Niederösterreich). Verschiedene Bücher, wie das Grundlagenwerk „Das Praxis Handbuch Ayurveda“ (Urania Verlag) sind von ihm erschienen. Kontaktadresse: dr.rhyner@allvedya.com, Tel. +43-2524-48345, A-2133 Loosdorf 77

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