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Traditionelle Diagnostik der Ayurveda-Medizin...

01.02.2008 | von Ralph Steuernagel Im Lichte moderner apparativer und laboratorischer TechnologieDie verblüffenden Fortschritte der modernen Diagnostik in den letzten Jahren sind unverkennbar – von der Pränataldiagnostik bis zur sog. Krebs-Vorsorgeuntersuchung lassen sich beinahe alle Körperregionen und pathophysiologischen Vorgänge bildlich darstellen.Welchen Stellenwert kann und soll auf diesem Hintergrund die traditionelle Diagnostik und Untersuchungsmethodik aus Asien, speziell der Ayurveda-Medizin, einnehmen?

Die verblüffenden Fortschritte der modernen Diagnostik in den letzten Jahren sind unverkennbar – von der Pränataldiagnostik bis zur sog. Krebs-Vorsorgeuntersuchung lassen sich beinahe alle Körperregionen und pathophysiologischen Vorgänge bildlich darstellen. Auch wenn die häufig zugewiesene Kritik an der Sinnhaftigkeit mancher Diagnostica bei ausbleibenden therapeutischen Modellen als Konsequenz teilweise berechtigt ist, so kann man doch von revolutionären Entwicklungen moderner diagnostischer Technologie sprechen.

Welchen Stellenwert kann und soll auf diesem Hintergrund die traditionelle Diagnostik und Untersuchungsmethodik aus Asien, speziell der Ayurveda-Medizin, einnehmen? Kann der Ayurveda-Arzt der ohnehin bereits weit gereiften modernen Technologie etwas hinzufügen? Ist es möglich, mit Hilfe der Ayurvedischen Methodik pathologische Vorgänge zu erfassen, die der modernen Variante verborgen bleiben?

Um diese Fragen zu beantworten, ist es sinnvoll, zunächst Schwachstellen und Lücken moderner Diagnostik zu beleuchten und Möglichkeiten des Ayurveda darzustellen.

Die Schwächen der modernen Diagnostik

Wie oft hören wir in der klinischen Praxis die Aussagen der Patienten:
„Ich wurde von Kopf bis Fuß untersucht, mir fehlt nichts – aber glauben Sie mir, es geht mir seit geraumer Zeit sehr schlecht“. Ist der leidende Patient laboratorisch und apparativ bildgebend befundfrei, gilt seine Beschwerde als „Befindlichkeitsstörung“, „funktionelles“ oder „psychovegetatives“ Syndrom und wird von ärztlicher Seite eher belächelt bzw. zum psychotherapeutisch arbeitenden Kollegen weiterverwiesen. Aber stellen nicht gerade diese Zustände potentielle Vorboten der später diagnostizierbaren tatsächlichen „Krankheiten“ dar? Lassen sich vielleicht durch Ayurvedische Diagnostik viele Krankheiten im Vorfeld erfassen und noch in reversiblen Stadien therapieren?

Ein weiterer lückenhafter Bereich läßt sich in der onkologischen und immunologischen Diagnostik erkennen. Wie oft weisen bis zur plötzlichen schockierenden Wahrheit einer Malignität Labor und Vorsorge keine Veränderungen auf und der Patient schildert: „es war doch immer alles in Ordnung!“

Ayurvedische Diagnostik

Um zu gültigem Wissen über ein Phänomen zu gelangen, beschreibt die Lehre des Ayurveda vier Prinzipien bzw. Erkenntnismittel (PRAMANA):

* angeeignetes Wissen durch Unterweisung von authorisierten Lehrern und Texten (APTOPADESHA)
* direkte Wahrnehmung eines Phänomens durch die fünf Sinne (PRATYAKSHA)
* logische Schlußfolgerung (ANUMANA)
* Beweisführung durch Anwendung der therapeutischen Notwendigkeiten (YUKTI)

Diagnostik beruht also auf Vermutungen durch logische Schlußfolgerung, basierend auf direkter Wahrnehmung und erlernter Gesetzmäßigkeiten. Die Bestätigung der Vermutung wird durch therapeutische Beweisführung im Rahmen der Therapie erzielt.
 

Ayurveda differenziert fünf Faktoren, ...

...um Krankheiten zu verstehen:

1.
Ätiologische Faktoren (NIDANA)
2. Prodromalzeichen (PURVARUPA)
3. klinisches Bild (RUPA)
4. Gabe von Linderungsmitteln (UPASHAYA)
5. Pathogenese (SAMPRAPTI)

1. Nidana - Ätiologie

Das Wissen von den Ursachen der vorliegenden Störung ist essentiell, da im Ayurveda primär die pathogenetischen Vorgänge therapiert werden und man den Störungen die Wurzel entziehen möchte. Diese liegen in der falschen Ernährung und Lebensführung (MITHYAHARAVIHARA), welche wiederum aus den grundlegenden Ursachen hervorgeht:

* falsches, gar kein oder übermäßiges Eintreten der klimatischen Einflüsse der Jahreszeiten (PARINAMA);
* falscher, gar kein oder übermäßiger Gebrauch des Verstandes (PRAJNAPARADHA);
* falscher, gar kein oder übermäßiger Kontakt mit den Sinnesobjekten (ASATMYENDRIYARTHASAMYOGA)

Dies führt zu mangelhafter Unterscheidungsfähigkeit und behindert den Betroffenen, sich von schädlichen Gewohnheiten fern zu halten – Krankheit oder Imbalancen sind die Folge.

2. Purvarupa – die Prodromalsymptomatiken

Gemäß Ayurveda sind Prodromi stets zu erfassen und nicht nur für einzelne Krankheitsbilder, wie modern i.R. vieler Infektionskrankheiten bekannt, zu beschreiben. Diese Warnsignale werden als allgemeine (SAMANYA) und spezifische (VISHISHTA) Prodromi unterschieden. Vorboten können also bereits Symptome der späteren Störung enthalten oder von diesen verschieden sein. Die Erkenntnisfähigkeit dieser Prodromi durch den Ayurveda-Arzt entscheidet somit über Manifestation sowie Verlauf akuter und chronischer Erkrankungen.

3. Rupa – das klinische Bild

Hier zeigt sich nun das klinische Bild in voller Ausprägung, der Patient sucht zumeist den Hausarzt auf und läßt sich offiziell diagnostizieren. Es ist das Stadium, in dem bildgebende Verfahren und Labor Veränderungen anzeigen und der Patient krankheitsspezifische Symptomatiken aufweist.

4. Upashaya – diagnostische Verifizierung ...

...durch Linderungsmethoden
Besondere Beachtung verdient die Gabe von Linderungsmitteln, die in achtzehn Anwendungsbereiche untergliedert wird und somit bereits als therapeutische Strategie zu bezeichnen ist. Linderung wird durch Korrektur schädlicher Ernährungsgewohnheiten, gesunde Lebensführung und mentale Hygiene sowie die Gabe von Arzneien angestrebt. Diese Korrektur wird gemäß der Ursache, der Krankheit selbst oder beidem kombiniert durchgeführt. Man wählt je nach Zustand entgegengesetzte (VIPARITA) oder nicht gegensätzliche Maßnahmen (VIPARITHARTHAKARI) aus. Das Ziel von Upashaya liegt in der diagnostischen Verifizierung: findet bsp. eine Korrektur bei gastrischer Hyperazidität durch die Gabe von Ingwer statt, ist dies auf eine Digestionsschwäche zurückzuführen – verschlimmert sich die Symptomatik durch Ingwer, lassen sich Hitzepathologien durch Aggravation des Feuer-Prinzipes „Pitta“ ableiten. Verschlimmern sich Arthralgien einer rheumatischen Verdachtsdiagnose durch Ölungen, liegt eine Stoffwechselstörung vor, die diätetisch und arzneilich strengen Richtlinien unterliegt. Kommt es durch Ölungen zur Linderung und Bewegungsverbesserung, vermutet man lediglich degerative Prozesse. Man kann Upashaya auch als praktische Form der Differentialdiagnostik ansehen.

5. Samprapti - Pathogenese

Die Pathogenese wird anhand von sechs Stadien beschrieben. Diese Stadien beziehen sich auf den Zustand der pathogenen Faktoren (DOSHA) Vata, Pitta und Kapha.
Es werden folgende Stadien differenziert:

* Akkumulation der DOSHA Vata, Pitta und Kapha (CAYA)
* Aggravation der DOSHA (PRAKOPA)
* Ausbreitung der DOSHA im Körper (PRASARA)
* Lokalisation der DOSHA, die eine Verbindung mit den später geschädigten Geweben eingehen (STHANASAMSHRAYA)
* Manifestation der Krankheit mit klinischem Bild (VYAKTI)
* Differenzierung mit Defektheilung, Chronifizierung, Exitus letalis oder Genesung (BHEDA)

Hinzu kommt die Aufzählung der Gattungen, der jeweiligen Dosha-Dominanzen und Vorherrschen einzelner Qualitäten bzw. Fraktionen, der Vielfalt und Arten der Erkrankung sowie die Analyse zeitlicher Faktoren der Aggravation und Manifestation (bezogen auf Jahreszeiten, Tageszeiten, Lebensphasen und Nahrungsabhängigkeit).
Der Patient sucht meist den Arzt oder Therapeuten erst im Stadium 5 auf, in dem sich die Krankheit bereits manifestiert hat und schwerer zugänglich ist. In der Behandlung kann man nicht ausschließlich den DOSHA als pathogene Faktoren die Grundlage entziehen, es muß das geschädigte Gewebe mitbehandelt werden – dies benötigt mehr Zeit und eine erweiterte therapeutische Intervention.

Die Ayurvedische Diagnostik läßt sich grob in...

... 2 Teilbereiche aufgliedern:

1.
Untersuchungsmethodik am Erkrankten (ROGI PARIKSHA)
2. Untersuchungsmethodik der Pathophysiologie und Erkrankung selbst (ROGA PARIKSHA)

Rogi Pariksha

Zehn Informationen über den Patienten müssen im Vorfeld erworben werden:

* seine physische und mentale Konstitution
* die Natur seiner Krankheit bzw. Imbalace
* die Grundqualifikation seiner Körpergewebe
* der Körperbau und die Kompaktheit der Gewebe
* Proportionen und Körpermaße
* Anpassungsfähigkeit, Verträglichkeiten, Toleranz und Gewohnheiten
* die mentale Stabilität
* das Appetitverhalten und die Verdauungskraft
* Körperkraft, Bewegungsvermögen und physische Belastbarkeit
* das biologische und chronologische Lebensalter.

Untersuchungsmethodik

Die Diagnostik in der ambulanten Praxis setzt sich aus zwei Bereichen zusammen:

1.Anamnese (PRASHNA PARIKSHA)
2. Direkte Wahrnehmung mittels der fünf Sinne (PANCENDRIYA PARIKSHA), einschließlich der körperlichen Untersuchung

Nach eingehender anamnestischer Erhebung folgt die Untersuchung palpatorisch und perkutorisch (Tastsinn), auskultatorisch sowie mit freiem Ohr (Hörsinn), visuell (Sehsinn), geschmacklich durch Befragung des Patienten (Geschmackssinn) und geruchlich (Geruchssinn).

Seit dem Mittelalter hat sich in der klinischen Praxis ein achtfaches Modell durchgesetzt, welches auch heute noch breite Anwendung findet:

1. Pulspalpation
Beurteilung von Volumen, Rate, Rhythmus, Amplitude und Qualitäten
2. Urinuntersuchung
Beurteilung von Frequenz, Menge, Farbe, Geruch und Klarheit
3. Stuhluntersuchung
Beurteilung von Frequenz, Menge, Farbe, Geruch, Konsistenz, Feuchtigkeit, Nahrungsmittelrückständen, Schleim-, Blut- oder Fettauflagerungen, Flatulenz und Kraftaufwand
4. Zungeninspektion
Beurteilung von Größe, Form, Farbe, Oberfläche, Feuchtigkeit, Rißbildung und Schwellung des Zungenkörpers; Form, Farbe, Feuchtigkeit, Frische und Lokalisation des Zungenbelages; Form, Farbe, Stauung und Schwellung der Unterzungenvenen
5. Auskultation sowie Geräuschwahrnehmungen
Abhören der Lungen, des Herzens sowie der Abdominalregion; Geräuschwahrnehmung der Stimme, Sekretionen, Atmung, Husten und Gelenkbewegungen
6. Palpation und Perkussion
Untersuchung der Haut auf Temperatur, Feuchtigkeit und Oberflächenstruktur sowie der Muskulatur und des subcutanen Fettgewebes; Organpalpation über die Haut
7. Augenuntersuchung
Analytik der Farbe, Größe, Gefäßzeichnungen, Licht- und Windempfindlichkeit sowie des Glanzes der Augen
8. Beobachtung des allgemeinen Erscheinungsbildes sowie visuelle DiagnostikWahrnehmung des Antlitzes, der Haltung, Ausdrucks- und Bewegungsformen

Ayurvedische Diagnostik und moderne Technologie -

Widerspruch oder Ergänzung?

Nachdem nun der diagnostische Ansatz der Ayurveda-Medizin skizziert wurde, bleibt die Frage zu klären, inwieweit die Modelle beider Systeme kombinierbar sind.

Nach meiner elfjährigen Erfahrung sowohl in ambulanter Praxis als auch klinischer Kurarbeit können und sollten Ärzte und Therapeuten auf keines der beiden Modelle verzichten. Die Komplexität der Krankheitsbilder erfordert eine laboratorische und bildgebende Differenzierung, um grobe Behandlungsfehler vermeiden zu können. Bleibt es jedoch alleinig bei dieser technologisierten Diagnostik, gehen wertvollle Informationen über den Menschen verloren, die insbesondere bei chronischen, funktionellen oder auch irreversiblen Störungen entscheidend sind. Durch Ayurvedische Diagnostik lassen sich moderne klinische Untersuchungen weiter differenzieren, was zu einer individuelleren Behandlung führt. Schließlich darf nicht nur die Krankheit das entscheidende Kriterium für oder gegen eine Therapieform sein, die Grundlage und das Milieu des Erkrankten spielen eine gleichwertige Rolle. Störungen ohne moderne „Namesgebung“ finden durch traditionelle Systeme wie Ayurveda Behandlungsmöglichkeiten.

Die Integration des Ayurveda als asiatische medizinische Wissenschaft kann nur durch Bestätigung laboratorischer und bildgebender Verfahren gesichert werden. Hierdurch ist eine Aufwertung des Rufes der traditionellen Systeme, sie würden zwar das Wohlbefinden steigern, wissenschaftlich betrachtet aber zu keiner Veränderung beitragen, zu erwarten.

Die Erfahrung der letzten Jahre beweist deutlich die Möglichkeiten der Ayurveda-Medizin, laboratorische Verbesserungen von Stoffwechselparametern (insbesondere Fettstoffwechsel, Leberstoffwechsel und Retentionswerte der Niere) durch Reinigungskuren, Phytotherapien, Diätkorrekturen und lebensführende Maßnahmen zu erzielen. Auch knotige Veränderungen der Schilddrüse, Mammae und des Uterus sowie Zysten- und Steinbildungen verschiedener Organe ließen sich in einigen Fällen verbessern oder gar gänzlich eliminieren. Toxin- und Schwermetallbelastungen konnten reduziert werden, Schleimhautbefunde entzündlicher oder gar ulzerativer Art ließen sich in einigen Fällen erwiesenermaßen korrigieren. Befunde des EKG und EEG können sich durch Ayurvedische Interventionen ändern, sogar Verringerungen der Lumeneinengungen von Gefäßen ließen sich angiographisch nachweisen. Man könnte diese Aufzählung weiterführen, es soll jedoch hiermit lediglich die reale Einflußmöglichkeit der Ayurveda-Medizin auf Laborwerte und bildgebende Verfahren aufgezeigt werden.

Wichtig ist zu erwähnen, daß Ayurvedische Diagnostik nicht alleinig auf einzelnen Untersuchungsmethodiken wie der Pulspalpation beruht, sondern eine Bewertung aller hier skizzierten Bereiche darstellt. Leider finden sich in Indien und zunehmend auch Europa noch immer „Wunderdiagnostiker“, die unter dem Namen der Ayurveda-Medizin Leid und Schicksal eines Patienten über den Puls beurteilen, was mehr einer verantwortungslosen, unprofessionellen und bedenklichen Umgehensweise entspricht.

Es bleibt zu wünschen, daß künftig den traditionellen Diagnosemethoden mehr Bedeutung in der modernen klinischen Untersuchung beigemessen wird und gleichermaßen die Tradition des Ayurveda sich den Fragen und kritischen Prüfungen der modernen Medizin zu stellen bereit ist.

Der Autor:

Ralph Steuernagel, HP

STEUERNAGEL
Akademie für Ayurveda & Komplementärmedizin (AAK)
Aus- und Fortbildung ٠ Coaching + Training ٠ Forschung und Austausch
Fon 0 61 72 / 68 46 47

https://www.ayurvedamedizin.de/


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