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Weltweite Akzeptanz durch evidenzbasierten Ayurveda: meine Mission

Weltweite Akzeptanz durch evidenzbasierten Ayurveda: meine Mission

14.03.2020 | Aktuell gibt es im Vereinigten Königreich mehr als 600 Ayurveda-Zentren. In Deutschland setzen mehr als 500 Ärzte Ayurveda in ihrer Behandlungspraxis ein und in den USA praktizieren ayurvedische Ärzte in beinahe jeder Metropole. Der Ayurveda-Tourismus nach Indien, insbesondere nach Kerala, nimmt stetig zu. Ja, Ayurveda gewinnt weltweit an Popularität – die weltweite Akzeptanz dieser traditionellen indischen Medizin ist jedoch nicht unumstritten.

Was ist der Unterschied zwischen Popularität und Akzeptanz? Ein politischer Anführer kann, beispielsweise aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten, seiner Persönlichkeit oder seiner Öffentlichkeitsarbeit populär werden, wird von den Menschen aber nur dann akzeptiert, wenn sie von seinen Leistungen profitieren. Um populär zu sein, muss man sich einen Namen erarbeiten, um akzeptiert zu werden, muss man den Menschen das Gefühl geben, einer von ihnen zu sein.

Bevor ich mich den Hindernissen zuwende, die einer globalen Akzeptanz des Ayurveda im Wege stehen und den Schritten, die bei deren Beseitigung helfen können, möchte ich kurz über die Abteilung Neurologie und komplementäre Medizin am Evangelischen Krankenhaus (EvK) Hattingen GmbH berichten.
 

Neurologie und komplementäre Medizin

Die Komplementärmedizin ist ein bedeutender Lösungsansatz für die Herausforderung, die weltweite Gesundheitsfürsorge nachhaltig zu gestalten. Ganz praktisch gesehen, kann die Integration dadurch geschehen, dass entweder die Behandlungsprinzipien eines von zwei Systemen in das andere übernommen werden, oder ein System als ein assoziiertes zusammen mit dem Hauptansatz fungiert. Auch eine Kombination der beiden Möglichkeiten wäre denkbar. Auf diese Weise wird das Paradigma des Gesundheitswesens neu definiert und der Schwerpunkt darauf gelegt, was das Beste für den Patienten ist.

Welche Behandlungsweise hilfreicher ist, das ist allerdings nicht leicht festzustellen. Eine „Win-Lose”-Situation gibt es hier nicht, da allein das Wohl des Patienten im Vordergrund steht. Rogers und Sheaff erinnern uns daran, dass die „Berechtigung der integrierten Anwendungslösungen die Bedürfnisse der Patienten und nicht die der Anbieter sind”. Organisationen, die den Patienten nicht in das Zentrum ihrer Integrationsbemühungen stellen, dürften kaum erfolgreich sein. Integrierte Gesundheitssysteme sollten für Patienten leicht nachvollziehbar sein auch wenn es eine Herausforderung für solche Systeme ist, die Sicht des Patienten beizubehalten. Patienten müssen sich in integrierten Gesundheitssystemen leicht zurechtfinden können und der anhaltende Fokus auf den Patienten ist für Systeme dieser Art eine Herausforderung.
 

Der Visionär

Unsere Abteilung behandelt zu Zeit Patienten mit extrapyramidalen Bewegungsstörungen wie Parkinson, Multiple Sklerose oder Motoneuron-Erkrankung (MND). Die Idee, eine integrierte Abteilung zu schaffen, war die bedeutende Vision ihres Direktors Professor Dr. med. Horst Przuntek, ein herausragender Neurologe und ehemals Professor für Neuromedizin an der Ruhr-Universität Bochum. Professor Przuntek ist Autor von über 750 wissenschaftlichen Veröffentlichung und blickt über die engen Grenzen der klassischen Schulmedizin hinaus.
 

Der Ursprung des integrativen Ansatzes

Im Jahr 2003 stellte Professor Dr. Heiko Braak seine Theorie der Stufen bei Parkinson („Staging in Parkinson’s Desease”) in der Fachzeitschrift Neurobiology of Aging (24, 2003) vor. Sie besagt, dass die frühsten Anzeichen der Krankheit im enterischen Nervensystem, im Rückenmark (Medulla) und im Riechkolben nachweisbar sind. Im Laufe der Jahre schreitet Parkinson dann fort und befällt das Soemmerring-Ganglion (Substantia nigra) und die Hirnrinde (Kortex). Belegt wird diese Theorie zunehmend durch Nachweise, dass nicht-motorische Symptome wie Störungen des Geruchssinns, Schlafstörungen und Verstopfung Jahre vor den ersten Bewegungsstörungen auftreten.

Zur gleichen Zeit wurde Professor Przuntek der Bedeutung von Behandlungen wie Basti (Einläufe) und Nasya (Nasenspülungen) sowie der damit einhergehenden Agni-, Ama- und Tridosha-Konzepte in der ayurvedischen Medizin gewahr. Dadurch erkannte er, dass Grundprinzipien des Ayurveda und der modernen Medizin ihm helfen könnten, einen Weg zur Heilung seiner Patienten zu finden. Die Idee der Integration zweier medizinischer Systeme war geboren.
 

Die Arbeitsmethodik der integrativen Neurologie

Die Abteilung für Neurologie und komplementäre Medizin wurde im Jahr 2009 gegründet und verfügt über vierzig Betten im Evangelischen Krankenhaus Hattingen. Das Team besteht aus dem Leiter und Leitenden Neurologen Professor Przuntek, drei Neurologen, zwei Ayurveda-Ärzten, sechs neurologischen Assistenzärzten, Ayurveda-Therapeuten, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Logopäden und Psychologen, die alle Hand in Hand arbeiten.

Das Ärzteteam, bestehend aus allopathischen und ayurvedischen Ärzten, führt während der täglichen Visiten bei den Patienten gemeinsame Gespräche. Einmal wöchentlich bespricht das gesamte Team den Krankheitsverlauf eines jeden Patienten detailliert.

Der individuellen Bewertung der Tridoshas, Dhatus, Koshta, Agni und Ama entsprechend erhält ein Patient äußerliche und innerliche ayurvedische Heilbehandlungen durch erfahrene Therapeuten unter der Anleitung der ayurvedischen Ärzte. Einmal in der Woche findet, als Ergänzung zu den detaillierten individuellen Beratungen durch die ayurvedischen Ärzte, ein ayurvedisches Ernährungsseminar für die Patienten statt. Selbstverständlich gehört auch Yoga zum Standardrepertoire.
 

Forschungsprojekte

Neben der Analyse der Auswirkungen komplementärer Medizin auf die motorischen Symptome von Parkinsonpatienten, für die unterschiedliche Skalen wie beispielsweise UPDRS III (Unified Parkinson Disease Rating Scale) verwendet werden, gibt es besondere laufende Forschungen wie:

- Auswirkungen von Nasya (Nasenspülungen) auf die Störungen des Geruchssinns und psycho-neurale Störungen sowie ihren Einfluss auf die Nase-Hirn-Achse (nose-brain axis).

- Auswirkungen von Basti (Einläufe) auf die Mikrobiome und Auswirkungen der Behandlung auf die Darm-Hirn-Achse (gut-brain axis).

- Forschungen zu Dickdarmmikrobiomen bei Parkinson und Multipler Sklerose.

- Auswirkungen ayurvedischer Ernährung auf die Mikrobiome.

- Auswirkungen von Gewürzen auf die Geruchsrezeptoren in der Nase und den Magen-Darm-Trakt, mit besonderem Augenmerk auf ihren Einfluss auf die Mikrobiome.

- Auswirkungen von Propion- und Buttersäure auf Multiple Sklerose.
 

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Evidenzbasiertes Ayurveda

Zu Beginn unserer Arbeit war es nicht leicht zu sagen, welche Behandlungsmethode hilfreicher war, nun jedoch, da wir die Ergebnisse unserer verschiedenen Forschungsprojekte untersuchen können, ist es uns möglich, den individuellen Nutzen festzustellen. Klar geworden ist, dass die Grundlagen und Behandlungsmethoden des Ayurveda bei essentiellem Parkinson gemeinsam mit den konventionellen Methoden größere Stabilität bewirken. Die Patienten sind stabil, die Symptome verschlechtern sich nicht und sie behalten verbesserte Lebensgewohnheiten bei, zu denen individuelle ayurvedischen Ernährungsgewohnheiten (Ayurvedoktha Pathayahara vihara), Tagesroutinen (Dinacharya) und das Leben im Einklang mit dem Rhythmus der Jahreszeiten (Ritucharya) gehören. Trotz einer Vielzahl von Anweisungen, fühlen sich die Patienten von ihren Ärzten nicht unter Druck gesetzt. Sogar das Gegenteil ist der Fall: Sie schätzen die Möglichkeit aktiv mit ihrer Krankheit umzugehen und zu ihrer Heilung oder der Linderung der Symptome beitragen zu können. Der integrative Ansatz eröffnet den Patienten viele Möglichkeiten. Bei meiner Arbeit in der Abteilung, in der Neurologen und Ayurveda-Ärzte Hand in Hand zusammenarbeiten, um die bestmögliche Behandlung für die Patienten zu gewährleisten, kann ich die positive Einstellung der Patienten für den komplementären, auf ihren Behandlungsbedarf abgestimmten Ansatz spüren.

Die ayurvedische Medizin wird von unserem Krankenhausmanagement, unseren Parkinsonpatienten und deren diversen Selbsthilfegruppen akzeptiert und uns ist es gelungen, eine soziale Akzeptanz in der Gemeinschaft zu schaffen. Auch Delegationen des AYUSH (Ministry of Ayurveda, Yoga & Naturopathy, Unani, Siddha, Sowa Rigpa and Homoeopathy) und des indischen Konsulats in Frankfurt erkennen unsere Arbeit an und schätzen sie. Diese Akzeptanz ist der Lohn für zehn lange Jahre der hingebungsvollen und harten Arbeit unseres Teams. Leider ist unsere Klinik das einzige Krankenhaus in Deutschland, das Ayurveda akzeptiert und dieser Medizin dieselbe Bedeutung beimisst wie der konventionellen Medizin, das einzige, in dem allopathische und ayurvedische Ärzte gemeinsame Visiten bei den Patienten abhalten. Ich verstehe es als meine Mission, durch evidenzbasierten Ayurveda dieselbe Akzeptanz auf globaler Ebene zu erreichen.
 

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Eine solche Akzeptanz konnten wir nur mittels Beweisen erreichen. In den vergangenen zehn Jahren konnten wir klinische Beweise für motorische und nicht-motorische Anzeichen und Symptome von Parkinson vorlegen. Dadurch sind wir nun in der Lage, unterschiedliche maßgeschneiderte Forschungsprojekte durchzuführen, die von systematischen Prüfungen und Metaanalysen bis hin zu interventionellen randomisierten kontrollierten Studien reichen.
 

Klassische Texte nutzen

Ich erinnere mich gut daran, wie mich Professor Przuntek einmal fragte, ob ich ihm aktuelle Forschungen zur ayurvedischen Behandlung von motorischen Blockaden (Freezing) des Gangs bei Parkinson besorgen könnte. Leider konnte ich ihm nur antworten, dass mir keine derartige Studie bekannt sei, ihn aber darauf aufmerksam machen, dass die klassischen Texte, die von unseren Gelehrten (Acharyas) verfasst wurden, Störungen des Gangs wie beispielsweise „skhalitham cha gathaou“ im „Kapha avarana Vyana“ erwähnen. Daraufhin fragte ich ihn: „Weshalb bestehen Sie auf aktuelle Beweise, wo doch schon unsere großen Acharyas diese Krankheiten und ihre Behandlung erwähnt haben?“ Er meinte: „Ja, ich weiß, dass die großen Acharyas in den klassischen ayurvedischen Texten über eine große Anzahl von Krankheiten und deren Behandlung geschrieben haben. Diese Texte sind ein wertvoller Schatz und ich denke auch, dass sie damals intellektuell und sozial in der Lage waren, solche Krankheiten zu behandeln. Ich möchte aber wissen, ob das heutige Ayurveda und die Ayurveda-Ärzte dieselben Ergebnisse erzielen können.“

Es ist allerhöchste Zeit, dass wir wieder zu unserer Kultur der Beobachtung, der Forschung und der Analyse zurückfinden, die zur Zeit der großen Acharyas existierte. Ayurveda konnte mehr als 5000 Jahre Bestand haben, weil sich diese traditionelle Medizin konsequent weiter entwickelte und die Art und Weise der Verbreitung den jeweiligen Erfordernissen anpasste: Von der mündlichen Lehre zur Schrift, vom Sanskrit zu Kommentaren in Sanskrit, Hindi, Englisch und andere Regionalsprachen. Was wäre wohl geschehen, hätte Punarvasu Atreya nicht seine Agniveshadi-Schüler gebeten, die Lehren niederzuschreiben? Was, wenn Hemadi, Arunadatta, Chakrapani, Indu und andere Acharyas ihre Kommentare nicht schriftlich verfasst hätten? Dasselbe Verdienst geht an all jene, die auf die eine oder andere Weise zur Weiterreichung des Ayurveda beigetragen haben. Ein Sprichwort sagt, dass die Notwendigkeit die Mutter aller Erfindungen ist. Auch die oben genannten Veränderungen geschahen aus Gründen, die wir heute gesellschaftliche Erfordernisse nennen.

Akzeptanz können wir dann erreichen, wenn wir die gesellschaftlichen Erfordernisse erkennen und die angemessenen Handlungen in die Wege leiten. Eine dieser Handlungen ist die evidenzbasierte Forschung. An dieser Stelle möchte ich noch auf die diversen Ansätze zur evidenzbasierten Forschung im Ayurveda hinweisen, konkret auf die evidenzbasierte Medizin, die „Integration der besten Forschungsergebnisse mit klinischer Erfahrung und Patientendaten”. Das Vorgehen in der evidenzbasierten Medizin gliedert sich in fünf Schritte:

1. Problemstellung: Identifizieren Sie das klinische Problem.

2. Fragestellung formulieren: Formulieren Sie eine klinische Frage unter Verwendung von PICO (ein Hilfsschema der evidenzbasierten Medizin zur Formulierung einer recherchierbaren Fragestellung im Gesundheitswesen).

3. Beweis erbringen: Sammeln Sie Beweise unter Verwendung verschiedener Ergebnismessungen.

4. Beweis bewerten: Evaluieren Sie die Nachweise.

5. Wenden Sie die gefundenen Erkenntnisse auf den Patienten an.

Das Schaubild beschreibt die Beweishierarchie. Es gibt sehr viele Variationen, aber diese hier ist die geläufigste. Der herkömmlichen Meinung zufolge zählen qualitative Nachweise weniger als quantitative. Deshalb nimmt die nicht durch Daten gestützte Meinung eines Experten die niedrigste Position ein, die Metaanalyse und randomisierte kontrollierte Studien die Spitzenposition. Diese Vorgehensweise, nämlich die Expertenmeinung am Ende der Skala einzuordnen, ist im Falle der ayurvedischen Studien ungerecht, da hier das Expertenwissen aus einer Folge von klinischen Leitlinien im Laufe der Jahre gewachsen ist. Die überarbeitete Version des Schaubilds korrigiert die Unterbewertung des Expertenwissens dahingehend, dass die klinischen Leitlinien über der Metaanalyse platziert wurden. Auf diese Weise passt es nun auch zu den Forschungsarbeiten des Ayurveda.

 

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Dr. Sandeep D. Nair, MD MSc FNR, seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Neurologie und Komplementärmedizin, EVK Hattingen. Studiert hat er am staatlichen Ayurveda College Trivandrum, wo er mit dem Bachelor der ayurvedischen Medizin und Chirurgie und dem Doktor der Medizin (Ayurveda – Panchakarma) abschloss, und an der Donau-Universität Krems, wo er seinen Master of Science über Neurorehabilitation ablegte. Dr. Sandeep war Assistenzprofessor für Panchakarma am Parassinikkadavu Ayurveda Medical College (PAMC), Kannur.

Email: s.nair@t-online.de

 

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung von Gayatri Puranik aus dem internationalen Fachmagazin für Ayurveda "Zeitschrift Ayurveda - Ausgabe 2019 - 3" entnommen. Über folgenden Link können Sie diese eine Ausgabe erwerben oder auch gerne weitere Zeitschriften bestellen:

 

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Titelbild des Ayurveda Magazins 2019 3 mit Dosha-Ausgleich und Weltkugel in Händen


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