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Was zeichnet einen guten Lehrer und Schüler aus

Was zeichnet einen guten Lehrer und Schüler aus

24.01.2019 | Von Anja Berger, HP: Während des letzten Symposiums haben mich die Vorträge über die klassischen Schriften des Ayurveda sehr beeindruckt.

Dr. Ram Manohar, Forschungsdirektor am Amrita Centre for Advanced Research in Ayurveda, sprach in seinem Vortrag «The structure of classic Ayurvedic writings – A hidden story» auch darüber, was einen guten Lehrer und Schüler auszeichnet.
 

Der Ayurveda ist aus einer mündlichen Lehrtradition hervorgegangen

Über die Entstehung des Ayurveda finden sich in den klassischen Schriften unterschiedliche Legenden, unter Ihnen die Geschichte des Punarvasu Atreya, der aus Mitgefühl für alle Lebewesen den heiligen Ayurveda an sechs Schüler weitergab. Sein Schüler Agnivesha hat der Legende nach Atreyas Lehre aufgeschrieben, bekannt als Agnivesha Tantra, auf das die Charaka Samhita Bezug nimmt.

Dr. Ram Manohar führte in seinem Vortrag aus, wie sich das Wissen in den klassischen Schriften offenbarte und wie wir dieses entschlüsseln und folglich selbst Wissen und Erkenntnis erlangen können. Ein wichtiger Faktor für das Verständnis der Schriften liegt darin begründet, dass der Ayurveda aus einer mündlichen Lehrtradition hervorgegangen ist. Die Weitergabe des Wissens durch einen Lehrer war über einen langen Zeitraum die wesentliche Form der Vermittlung. Die schriftlichen Darlegungen waren Ergänzungen und bildeten im Laufe der Zeit auch die Lehrbasis, aber die Texte waren nicht unmittelbar zugänglich, sondern bedurften weiterhin der Interpretation und Vermittlung durch einen Lehrer.
 

Lehrer und Schüler bilden eine Einheit

Der Text, der Lehrer und der Schüler bilden demnach eine Einheit und erst die harmonische Verbindung bringt den Ayurveda, das Wissen vom Leben, ans Licht. Dem Lehrer kommt dabei die wichtige Rolle zu, den Wissenserwerb zu ermöglichen – und dies ist weit mehr als die reine Weitergabe von Informationen. Vielmehr schöpft der Lehrer aus seinen eigenen Erfahrungen, übersetzt diese in Erklärungen und Konzepte, die er wiederum seinen Schülern vermittelt. Diese Art der Initiation durch den Lehrer macht das in den Texten verschlüsselte Wissen für den Schüler zugänglich: Das, was schwierig scheint, wird einfach.
 

Der Lehrer macht das Wissen für den Schüler erfahrbar und erlebbar

Bildlich gesprochen bereitet der Lehrer den Boden, damit der Same, den er sät, auch auf fruchtbare Erde fällt und sich entwickeln kann. Ein guter Lehrer ist in der Lage, das Feuer (der Erkenntnis) in seinen Schülern zu entfachen. Dafür muss er das in den Texten verschlüsselte Wissen für seine Schüler erfahrbar und lebendig machen. Der Schüler nimmt das Wissen und die Erfahrung des Lehrers auf, verinnerlicht diese, macht sie zu seinem Wissen und letztlich zu seiner Erfahrung. Der Begriff Veda beschreibt diesen Zyklus der Vermittlung und Übertragung vom Lehrer zum Schüler, der sich letztlich ohne Worte vollzieht. Dabei ist das Lesen in den Schriften nur der auslösende Impuls; erst durch die Offenheit und Gnade des Lehrers und seinen Wunsch, sein Wissen zu teilen, wird der Schüler in die Lage versetzt, selbst Wissen und Erkenntnis zu erlangen.
 

Die Lernstufen zur Meisterschaft

Die praktische Anwendung

Neben dem Studium der Texte und ihrer Interpretation ist die praktische Anwendung die dritte Säule des Lernprozesses. Die in den Schriften vermittelte Lehre hat folglich nicht nur eine theoretische Basis, sondern ist zugleich auf die konkrete Anwendung in der Praxis ausgerichtet. Wissen ist nicht Wissen, wenn es keinen praktischen Wert hat. Dahinter steht das Verständnis, dass Theorie und Praxis keine getrennten Einheiten darstellen, sondern dass das eine nicht ohne das andere bestehen kann. Aus diesem Grund unterscheidet der Ayurveda Theorie und Praxis nicht, denn sie sind zwei Seiten einer Medaille.


Die direkte Erfahrung, die über die Theorie hinausgeht

Darüber hinaus gibt es im Ayurveda aber eine dritte Seite beziehungsweise Wissensebene, genannt Tatva – in der Bedeutung einer tieferen Erfahrung von Realität, die über die Theorie hinausgeht. Bewusst zu handeln basiert zwar auf der Basis von Konzepten und Ideen (Theorie), aber ohne direkte Erfahrung gibt es keine Ideen und Konzepte – und die direkte (tiefste) Realitätserfahrung ist Tatva – Istheit – der Kern der Erfahrung. Wir können nichts (Wirkliches) über die Doshas oder andere Aspekte wissen, wenn wir sie nicht selbst direkt erfahren haben.

Aus diesem Grund sind in den klassischen Texten auch drei Stufen des Lernens beschrieben:
Auf der ersten Ebene befolgt der Schüler die in den Schriften dargelegten Anweisungen und praktischen Anwendungen. Auf der nächsten Ebene versteht er die zugrundeliegende Theorie und auf der höchsten Wissensebene erkundet er die Erfahrung hinter der Theorie, versteht die zugrundeliegenden Prinzipien und entdeckt neues Wissen.

Diese Darstellung der Entwicklungsstufen gibt es nicht nur im Ayurveda. So beschreibt ein altes japanisches Konzept «Shu-ha-ri» ebenfalls drei Lernstufen zur Meisterschaft: Erst lernen, dann loslösen und schließlich übertreffen. Die Erfahrung und das Beherrschen der traditionellen Regeln und Werte sind dabei die Voraussetzung, um sich letztlich davon zu lösen und diese frei anzuwenden und Neues zu erschaffen. Ri versinnbildlicht wie Tatva die höchste Stufe, die Fähigkeit zur Transzendenz, zur Vollendung des Geistes. Die Stufen beschreiben auch die Phasen, die ein Mensch in seinem Leben durchläuft: Von der Unreife zur Reife, von der Unerfahrenheit zur Erfahrung, von der Jugend zum Alter (zur Weisheit).

Dies ist der Prozess, in dem sich die Essenz des Ayurveda nach und nach entfaltet und der Ayurveda-Lernende zu tiefer Erkenntnis der Natur der Dinge vordringt. In diesem letzten Schritt ist der Schüler gefordert, über die Schriften hinauszugehen und seinen eigenen Intellekt zu gebrauchen – darin liegt die ultimative Freiheit des Denkens. In diesem Sinne fordert Atreya seinen Schüler Agnivesha auf: «Glaube nicht, was ich sage». Und Agnivesha wiederum fordert seinen Lehrer heraus: «Ich sehe viele Menschen, die sich an deine Lehren halten und dennoch krank sind, und es gibt so viele, die noch nie etwas von deinen Lehren gehört haben, aber glücklich sind – wie kannst Du daran glauben, dass Ayurveda funktioniert?».
 

Der Lehrer initiiert und begleitet

Es ist nicht das Ziel, die Schüler von den Schriften oder von einem Lehrer oder Guru abhängig zu machen. Vielmehr ist es genau das Gegenteil. Denn der wahre Guru ist nicht der Lehrer außerhalb, sondern ist das Licht der Erkenntnis in uns selbst. Dies bedeutet aber nicht, Schriften und Lehrer beiseite zu lassen. Denn der Lehrer ist derjenige, der das innere Licht des Schülers erst entzündet und den Entwicklungsprozess initiiert und begleitet. Als gute Schüler sind wir aufgefordert, unseren Intellekt zu gebrauchen, alle möglichen Fragen zu stellen, zu hinterfragen, um tief in die Wahrheit des Ayurveda einzudringen.

In diesem Sinne verbleibe ich in tiefer Verneigung vor dem Wissen und der Erfahrung meiner Lehrer und sage Danke für ein spannendes Symposium mit vielen bereichernden Vorträgen, Diskussion und Gesprächen.

Der Vortrag von Dr. Ram Manohar ist auf YouTube zu finden:

Video-Ram-Manohar

Videoausschnitt
 

Autorin: HP Anja Berger, stellv. VEAT-Vorstandsvorsitzende
 

Die Artikelveröffentlichung wurde uns ermöglicht von:

VEAT – Verband Europäischer Ayurveda-Mediziner und -Therapeuten e.V.

An der Falkenwiese 9, D-85128 Nassenfels, Tel. 0049-8424-885758
www.ayurveda-verband.eu
veat@ayurveda-verband.eu,

 

Titelbild: Bild von swamiananda auf Pixabay


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