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Was ist Ayurveda ?

07.12.2002 | Von Dr. Hans-Heinrich Rhyner »Körper, Geist und Seele sind wie ein Dreifuß. Die Welt wird durch ihr Zusammenspiel erhalten. Sie stellen das Substrat für alles Existierende. Vereint bringen sie das fühlende Wesen hervor, für das Ayurveda ins Licht gerufen wurde.« Caraka Samhita, Sutra Sthana, Kapitel 1, Vers 46 Ayurveda ist die Kunst, gesund zu leben und sanft zu heilen. Der Name setzt sich aus zwei Wörtern der Sanskritsprache zusammen, nämlich »Ayus«, welches »Leben« bedeutet und von Caraka als Kombination von Körper, Sinnesorganen, Geist und Seele (3) definiert wird, und »Veda«, was »Wissen« bedeutet.

Wenn dieses »Wissen vom Leben« zum integralen Bestandteil unseres täglichen Daseins wird, reift es zu einer Kunst. Diese Lebenskunst ist die wahre Bedeutung von Ayurveda. Sie kann uns bei jedem Aspekt unseres Lebens sicher führen, damit wir das bestmögliche Potential körperlicher, emotionaler und seelischer Natur unseres Daseins voll ausschöpfen können. Denn ohne Gesundheit in diesem umfassenden Sinne werden wir die von bekannten Philosophen aufgezählten vier Lebensziele, Religiosität, wirtschaftlichen Fortschritt, Sinnesfreude und Loslösen von allem Materiellen, nicht erreichen können. Ayurveda dient sowohl dem Workaholic wie auch dem Lebemann, Priester und Yogi.
Ayurveda wurde nie in Mysterien gehüllt oder in verschlüsselter Sprache niedergeschrieben, sondern zum Nutzen aller gedacht. Erst seit dem späten Mittelalter, als fremde Eroberer die indische Kultur auszulöschen drohten, ging Ayurveda mit anderen vedischen Praktiken in den Untergrund. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erwachte Ayurveda zusammen mit der indischen Unabhängigkeitsbewegung wieder zum Leben.
Die recht unorthodoxe Philosophie von Ayurveda enthält sowohl Elemente von Theismus, abstrakter Logik, Schamanismus und matriarchalisch geprägtem Tantra. Diese enorme Anpassungsfähigkeit hat Ayurveda zum festen Bestandteil der Medizinsysteme anderer Völker wie der Tibeter, Mongolen, Perser, Araber, Chinesen und Griechen gemacht. Den Beweis dazu lieferten die Buddhisten, welche die Veden nicht akzeptierten, aber Ayurveda als Ganzes übernahmen.
Medizin ist keine exakte Wissenschaft. Caraka, der Autor des berühmten klassischen Werkes über Innere Medizin, das auch seinen Namen trägt, war sich dieser Tatsache bewußt und wies seine Studenten an, Wissen von jeder Quelle zu übernehmen, da es keine Endgültigkeit in der Ayurveda gebe. Des weiteren sagte er, daß das Streben nach Wissen soweit gehen müsse, daß man dieses selbst von seinem schlimmsten Feind akzeptieren sollte und daß die ganze Welt aus Lehrmeistern für die Weisen und Feinden für die Dummköpfe bestehe. Alles, was der Erhaltung von Gesundheit, Langlebigkeit und Ruhm diene, sollte ohne Zögern oder falsche Scham übernommen und dienstbar gemacht werden.(4)
Die einfache, aber gleichzeitig komplexe These von Ayurveda beruht auf der Tatsache, daß alles in der Natur, der Mensch eingeschlossen, aus den gleichen Bausteinen, den Protoelementen, besteht. Ein Zuviel oder ein Zuwenig einer oder mehrerer diese Substanzen zerstört das Gleichgewicht unseres Organismus und führt allmählich zu Krankheit oder Zerfall. Die wichtigste Regel bei einem Ungleichgewicht ist, daß, wenn man Elemente mit antagonistischen Eigenschaften den geschwächten Elementen hinzufügt, diese wieder ausgeglichen werden. Damit wird die Homöostase, welche gleichbedeutend mit Gesundheit ist, wiederhergestellt. Dies hört sich unglaublich einfach an. Tatsächlich ist es sehr leicht, anhand dieser Regel den eigenen Gesundheitszustand zu erhalten, während in krankhaften Zuständen sehr großes Geschick von Seiten des Arztes gefordert ist, um die exakten, zugrunde liegenden Faktoren ausfindig zu machen und eine Therapie anzuwenden, die arm an Nebenwirkungen ist. Das ist auch der Grund, warum Patienten mit der gleichen Krankheit völlig verschieden behandelt werden können.

Gegenüber der modernen Medizin, die primär eine Heilkunde ist, hat Ayurveda eine dreigestaltige Funktion:

1. Präventiv - als Gesundheitskonzept und persönliche Hygiene für jedermann
2. Psychologisch - als Lebensphilosophie, welche die wichtigen Aspekte der menschlichen Existenz regelt
3. Kurativ - als Medizinwissenschaft mit einem ganzheitlichen Konzept von Gesundheit und Krankheit und umfangreichen Heilmethoden.

Das ayurvedische Gesundheitskonzept ist insoweit einmalig, als daß es ein Schema für jedermann enthält, aufgrund bestimmter Regeln gesund zu bleiben. Dabei wird empfohlen, Emotionen wie Haß, Eifersucht und Neid zu kontrollieren, während somatische Antriebe wie Niesen, Stuhlgang, Urinieren, usw. keinesfalls unterdrückt werden sollen. Weitere Richtlinien für Ernährungsweise, Schlaf, körperliche Übungen, Sexualverkehr mit Rücksicht auf Konstitution, Jahreszeit, Klima und Lebensalter sollen den Tagesablauf genau bestimmen. Die moderne Medizin anerkennt den positiven Einfluß von bestimmten Gewohnheiten auf das Immunsystem und in der Verhütung von Streß.
Entsprechend ayurvedischer Auffassung haben viele somatische Beschwerden ihre Ursache auf der emotionalen Ebene. Die moderne Psychoneuroimmunologie (PNI) befaßt sich ausschließlich mit diesem Phänomen. Eine Lebensphilosophie, die auf alle Facetten eines individuellen Lebens eingehen kann, bedeutet eine große Hilfe. So werden auch bestimmte meditative oder kontemplative Praktiken empfohlen, die aber auf keinen Fall mit den gewohnten religiösen Praktiken in Konflikt geraten sollen. Was die medizinische Basis der Ayurveda betrifft, so beruht diesevon Anfang an auf einer äußerst anspruchsvollen Theorie und einer gedehnten klinischen Praxis, die in der Medizingeschichte wohl einmalig ist.
Die enge Verbindung von Wissenschaft und Philosophie, als die beiden Seiten ein und derselben Münze, ist uns im Westen verlorengegangen. Die Quantentheorie sowie die Kosmologie holen uns in dieser Beziehung wohl wieder ein. Ayurveda, da nicht negativ vorbelastet, geht reibungslos von der Philosophie zum Big Bang, zur anorganischen Chemie und zur organischen Chemie über und befaßt sich mit so heiklen Themen wie sozialer, emotionaler und spiritueller Harmonie, vor denen sich jeder Mediziner normalerweise hütet, wie vor Pest.
Durch Befolgen von philosophischer Kontemplation und psychosozialer Hygiene soll jeder Mensch die Verantwortung über sein Wohlergehen übernehmen. In dieser Hinsicht ist es sehr wichtig, die eigene Konstitution, die auf Grund der vorherrschenden Bioenergien besteht, zu kennen, denn sie gibt Aufschluss sowohl über psychosomatische Eigenschaften wie auch über Anfälligkeit bei bestimmten Krankheiten. Das Verständnis der eigenen Konstitution bildet den Schlüssel zu Gesundheit und sollte deshalb ein fester Bestandteil im modernen Bildungswesen werden.

(3) Caraka Samhita, Sutra Sthana, Kapitel 1, Vers 42
(4) Caraka Samhita, Vimana Sthana, Kapitel 8, Vers 14

Auszug aus "Das Praxis Handbuch Ayurveda. Gesund leben, sanft heilen" von Dr. Hans-Heinrich Rhyner, Copyright by Urania Verlag, Neuhausen, Urania Verlag.

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