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Sex und Ayurveda

Sex und Ayurveda

31.08.2009 |  von Hans H. RhynerWas Sie schon immer über Sex wissen wollten, die Pandits Ihnen aber aus gutem Grund nicht verraten haben ...

In Europa war die karolingische Renaissance (8. bis Mitte des 9. Jahrhunderts) wohl der letzte Versuch weltlicher Bildung, Kultur und Lebenskunst – auch in der Medizin. Danach gewann der Klerus die Oberhand. Damit gerieten Erotik und Sex für 1000 Jahre unter das Joch des kirchlichen Dogmas. Von nun an galt Thomas Aquin‘s Faustregel der Sexualethik:
1.    mit dem richtigen Partner (dem Ehepartner)
2.    auf die richtige Art (in der Missionars-Stellung)
3.    zum richtigen Zweck (zur Zeugung)

1790 landete der Lausanner Arzt S. A. Tissot mit seiner „wissenschaftlichen“ Abhandlung einen Bestseller und läutete damit die für 150 Jahre dauernde Antimasturbations-Kampagne ein. Die Angst vor dem Masturbationswahnsinn wurde zum beherrschenden Thema der Gesundheitsvorsorge bis ins 20. Jahrhundert. Noch weiter ging der ungarische Arzt Heinrich Kaam. Er veröffentlichte 1824 in Leipzig seine „Psychopathia sexualis“. In ihr wurden die Sündenvorstellungen des Christentums in medizinische Diagnosen umgewandelt. Die ursprünglich theologischen Schimpfwörter Perversion, Aberration und Deviation wurden so erstmals Teil der Wissenschaftssprache. Der österreichische Psychiater Krafft-Ebing schreibt in seiner bis 1924 überarbeiteten Version der „Psychopathia sexualis“ das von der Moraltheologie übernommene Dogma: „Als pervers muß jede Äußerung des Geschlechttriebs erklärt werden, die nicht den Zwecken der Natur, d.h. der Fortpflanzung entspricht.“  Alles andere wird pathologisiert. Im Vergleich zu Thomas von Aquin entfiel einzig die zwingende Ehe.

Dieser Exkurs in die Historie von Sex im Abendland finde ich notwendig, denn es erklärt, warum aufgeklärte Menschen bis Heute Sex als etwas schmutziges oder unmoralisches empfinden. Die Information scheint im europäischen Genom festzustecken. Das jedenfalls ist die Erfahrung aus meiner Praxis. Die Errungenschaften von Kinsey, der sexuellen Revolution der Achtundsechzigern bis hin zu den Blumenkindern scheinen ins Nichts verpufft zu sein.

Was nun sagen die ayurvedischen Autoritäten? In der ayurvedischen Literatur finden wir auf den ersten Blick sehr widersprüchliche Aussagen zu Sexualität. In den meisten Fällen finden wir eine physiologische Erklärung für die abgegebenen Empfehlungen oder Verbote. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß auch Ayurveda immer wieder und das bis Heute von Priesterkasten dominiert wurde. Sie brachten ihre Moraltheologie mit ins Spiel.
Das ist grundsätzlich falsch, denn Vedanta - das höchst spirituelle aller philosophischen Systeme – befürwortete schon immer ein Miteinander von Sinnlichkeit und reiner Spiritualität.
Vedanta nennt zwei Wege zur Erkenntnis – (1) den Pfad des Handelns, welcher Sinnesfreuden einschließt (Pravritti Marg) und (2) den Pfad der Enthaltung (Nivritti Marg). Der eine Pfad führt über eine gesunde Sättigung der Sinne zu sich Selbst und der andere durch Loslösung. Daß jeder Mensch seinen Weg finden soll und darf, gehört seit eh und je zu den Grundlagen des vedischen Gedankengutes und ist ein Grundrecht jedes Individuums. Diesem offenen System sollten wir uns als Ayurveda-Ärzte und Therapeuten verpflichten und nicht irgendwelche Dogmen folgen, die wir nicht selbst nachvollziehen können.

Nun zu den Argumenten und scheinbaren Kontroversen, welche die verschiedenen Experten vorbringen: Sushruta zum Beispiel, beschreibt Voyeurismus, Sodomie, Oralsex, Homosexualität als Folge von defektem Shukra (Fortpflanzungsgwebe) und ist der Meinung, daß diese zu weiteren Defekten im Erbgut führen könne. Weiter finden wir den Hinweis, daß bei Sex zwischen Lesben ein knochenloser Fötus entstehen kann. Hier liegt er natürlich voll daneben. Vielleicht sind falsche Interpretationen der späteren Kommentatoren daran schuld.

Kontraindikationen für Paare mit Kinderwunsch, die von verschiedenen klassischen Autoren aufgeführt werden, sind nachvollziehbarer: Überessen, Hunger, Durst, Angst, Aversion (für den Partner), Wut, Trauer, Eifersucht, Sehnen nach einem Anderen, gegen den Willen, ohne Lust, exzessive Lust, Krankheit, Inzest, Menstruation, Schwangerschaft, zu jung, zu alt, in der Dämmerung, um Mitternacht, bei Eklipse, an unsauberen und unglücksverheißenden Zeiten und Orten oder bei ungeeigneter psychologischer Status des Paares.

So lautet die physiologische Erklärung, warum Sex während der Menstruation nicht empfohlen ist, daß während dieser Zeit der natürliche Schutzmechanismus im vaginalen Trakt reduziert ist. Zudem hat Apana Vata - ein nach unten gerichteter Kraftstrom des Körpers - die Aufgabe, das Menstruationsblut und mit ihm abgestoßene Teile des Endometriums sicher zu entfernen. Dieser natürliche Reinigungsprozeß sollte weder durch heftige Penetration oder intensive Stimulation gestört werden. Das ist aber nicht ein generelles Verbot für Sex und Erotik. Darum ist das Konzept der brahmanischen Kasten, daß die Frau während der Menstruation unrein sei, nicht den Tempel besuchen oder im Bett des Mannes schlafen darf, völlig unsinnig.

Eine weitere falsche Vorstellung ist das Konzept von Ativyavaya (exzessiver Sex), ein wichtiges Konzept in der Pathologie. Damit ist aber nicht eine moralisch bezogene Einschränkung gemeint, sondern passender Sex zur passenden Zeit, d.h. angepaßt auf die Konstitution, das Lebensalter und die Jahreszeit.

Schließlich existiert noch der Irrglaube aus dem Tantra und einigen Yogaschulen, welcher mit dem Konzept von Shukra und Ojas untermauert wird. Danach soll ein Mann beim Sex keinen Samenerguß haben oder diesen möglichst lange hinauszögern. Caraka kontert: „Das Unterdrücken der natürlichen körperlichen Bedürfnisse – dazu gehört wohl auch der Samenerguß und Sexualität – führt zu diversen Krankheiten“. Bhavamishra geht noch einen Schritt weiter und sagt: „Im menschlichen Körper entsteht der  Wunsch nach Sex jeden Tag. Eine Abstinenz führt zu Diabetes, Übergewicht und Muskelschwund.“ Wer hat nun Recht?

Erstens einmal muß ich den keuschen Yogis mitteilen, daß eine körperlich sexuelle Abstinenz weder automatisch zu einer Zunahme von Shukra noch von Ojas führt. Zudem existieren 3 Arten von Sex, die zum Verlust von Ojas führen: (1) darüber zu denken, (2) darüber zu sprechen und (3) es zu tun. Natürlich schützen zwei von ihnen vor Geschlechtskrankheiten und ungewollter Schwangerschaft. Der Prozeß der Umwandlung von Shukra zu Ojas ist äußerst komplex und nicht mit Abstinenz allein erledigt.

Ayurveda verbietet grundsätzlich niemandem etwas, sondern zeigt Mittel und Wege auf, damit jede und jeder sein Grundrecht auf Sexualität leben und davon gesundheitlich profitieren kann. Das ist der pragmatische Weg eines ganzheitlich denkenden und lebenden Heilers und Arztes und seine Unabhängigkeit erhält diesen Anspruch. Dagegen macht das Zusammengehen herkömmlicher Moralvorstellungen und Wissenschaft klar, daß die sogenannte Wissenschaft – heute wie damals - bestenfalls kulturell eingefärbt, wenn nicht bestechlich ist!
Darum dürfen holistische Mediziner niemals zu Missionaren eigener oder kollektiver Dogmen mutieren.

Titelbild: Photo by We-Vibe WOW Tech on Unsplash


Zum Autor:

Hans Heinrich Rhyner, Ayurveda Arzt und Philosoph, MD & PhD (alternative Medicine) gilt als führender und international anerkannter Experte und Pionier der Ayurveda-Medizin in Europa. Der gebürtige Schweizer verfügt über ein äußerst authentisches Wissen zum Thema. Er lebte 25 Jahre in Indien und praktizierte dort in seiner eigenen Klinik in Bangalore. Seit 10 Jahren lebt und praktiziert er in Herisau (Schweiz) und Wien (Österreich).

Weitere Infos: www.ayurveda-rhyner.com
dr.rhyner@ayurveda-rhyner.com

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